Frei heraus juchzen und jodeln
Wenn ich über das Jodeln spreche oder einen Jodler anstimme, geht meist ein amüsiertes Raunen durch die Zuhörer, eine Art „kollektive Kicherwelle“ mit ganz unterschiedlichen Empfindungen: Allein bei dem Gedanken ans Jodeln scheinen sich peinlich Berührtes, Tabuisiertes, Ergötzliches, Heiteres und überschäumende Lebensfreude im Zwerchfell zu lösen. Auch beim Juchzen und Jodeln selbst mobilisiert sich Archaisches, Unkontrolliertes und Energie geladene, natürliche Kraft.
Das öffentliche Interesse am Jodeln, dieser urwüchsigen und innigen Singart, wächst. Die alpenländischen Nonsense-Silben-Gesänge werden salonfähig. Die Sing- und Chantbewegung der letzten Jahre hat das Jodeln als „Mantra der Berge“ entdeckt und liebgewonnen. Bei den „Nächten der spirituellen Lieder“ ist das Jodeln willkommenes, erdendes und energetisierendes Element. Entsprechend angebotene Kurse an der Volkshochschule sind überfüllt.„Kann denn Jodeln jeder lernen?“, werde ich immer wieder gefragt und meine Antwort ist – Ja.
Wir sind von Natur aus mit einem Kehlkopf mit Stimmlippen ausgestattet, die in Schwingung versetzt werden, wenn wir sprechen, rufen, stöhnen, lachen, singen und – jodeln. Solange sich unsere Zellen im Körper teilen – solange wir also leben – ist eine Weiterentwicklung möglich, lässt sich unsere Stimme bilden und gestalten. Dazu gehört auch eine entsprechende mentale Einstellung, ein unterstützendes „Dasprobier- ich-aus“ öffnet den Weg und verhindert ein blockierendes „Das-kann-ich-nicht“.
Als Stimmtherapeutin und Singgruppenleiterin weiß ich um die physiologischen Zusammenhänge, die Entwicklungsfähigkeiten und Möglichkeiten der Stimme. Lockerungs-, Bewegungs- und Atemübungen helfen, den „Schnackler“ zu befreien und damit auch die Energie, die in ihm gebunden vorhanden ist. Der Schnackler ist der natürliche hörbare Wackler, der beim Wechsel von Brust- zur Kopfstimme und umgekehrt entsteht. Während im klassischen und größtenteils auch im modernen Gesang daran gearbeitet wird, diesen „Registerbruch“ durch Mischen des Brust- und Kopfstimmklangs zu einem einheitlichen, stufenlosen Gesangston auszugleichen und unhörbar werden zu lassen, ist es gerade dieser Schnackler, der das Jodeln zur Kunstform erhebt.
Um in das „Bauchgefühl“ des Singens zu kommen, lasse ich über „Call-and-Response“ – Vor- und Nachsingen – Melodie, Text und Jodelsilben wiederholen, bis sie sich wie von selbst singen. Eventuelle Hemmungen bauen sich durch gemeinsames Improvisieren und Ausprobieren ab. Nach dem Frei-laufen-lassen gehe ich wieder in die musikalische Form über. Für dieses „interaktive Jodeln“ eignen sich traditionelle, ein- oder mehrstimmige Jodler, aber auch selbst geschriebene „Circle-Song-Jodler“.
Neben dem musikalischen Aspekt stehen in meinen Workshops der stimmbildnerische und der menschliche. Eine entspannte, öffnende Atmosphäre und der Spaß am gemeinsamen Tun sind mir wichtig. Es geht um Zuhören, Lauschen, Spüren und Authentisch-werden im persönlichen Stimmklang und darum, in natürlicher und physiologischer Weise zu singen. Im Vordergrund stehen ein achtsamer Umgang mit der Stimme und ein belastungsfreies Singen. Wir arbeiten einerseits an kraftvollen, brillanten Brusttönen, die vor allem durch muskuläre „Massenschwingungen“ der Stimmlippen entstehen. Andererseits entwickeln wir „Feinschwingungen“: Sensible, verletzliche und intime Töne der Kopfstimme, die sich bei liebevollem und druckfreiem Stimmeinsatz durch die Vibrationen der Schleimhaut über dem Stimmmuskel entfalten. Der ganze Mensch ist Instrument für die Stimme; sie ist individuell und einzigartig. In ihr klingen Körper, Geist und Seele, das Materielle wie das Spirituelle. Das Tönen, Singen und Jodeln bietet eine Möglichkeit, mit sich und der Welt in Einklang zu kommen.
Wie ich zum Jodeln kam? Ich bin vom „Bayrischen Meer“, aus dem Chiemgau. Meine Familie liebte die Berge und so erklomm ich als Kind und Jugendliche jedes Wochenende wandernd einen anderen Gipfel. Ich war umgeben von heimatlichen, alpenländischen Klängen und Gesängen – nur dass ich damals all dem nicht viel abgewinnen konnte. Mit Siebzehn floh ich in die Stadt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Reichtum meiner Herkunft schätzen lernte, und eine weitere Weile, bis ich – „Back to the Roots“ – Lust bekam, diese Art von Gesang in mir zu wecken.
Seit ich professionell an der Stimme arbeite, ist es mir ein Vergnügen und eine große Freude, anderen Menschen diese kraftvolle und bewegende, stille und innige Art des Singens nahezubringen und im Miteinander klingen und schwingen zu lassen. Es berührt mich sehr, in meinen Kursen immer wieder zu erleben, wie die Singenden aufblühen und ein gemeinsames belebendes Klangkunstwerk entsteht.
DIE AUTORIN:
Ruth Seebauer
Atem-, Sprech- und Stimmtherapeutin
Logopädische Praxis, Pestalozzistraße 42, 80469 München
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