Die Wüste ist wie die leere Leinwand im Kino, wenn der Film noch nicht läuft. In ihr wird erst einmal spürbar, wie viele Filme in unserem Kopf ablaufen und wie ein Kommentator sehr lebhaft und unaufhörlich zu allem seinen Senf dazu geben muss. Da hilft nur Humor, wenn wir uns auf die Schliche kommen! Es ist sehr interessant zu erfahren, wie unendlich genial und laut unser Gehirn es schafft, uns immer auf Trab zu halten – damit wir ja nicht „nichts“ tun. Die vielen Prägungen und Gewohnheiten, die „uns“ seit wir auf der Welt sind erschufen, werden in der Wüste oft sehr sichtbar, hörbar und spürbar. Im täglichen Leben merken wir meist gar nicht, wie sehr wir unaufhörlich im Äußeren verwickelt sind, projizieren, diskutieren, denken, machen, tun. Wie wir – wie junge Katzen – sofort auf das draufspringen, was sich bewegt. In der Stille und Weite der Wüste hört das nicht plötzlich auf. Im Gegenteil – es wird erst einmal noch sehr viel lauter im Kopf. Hier erst bemerken wir, was für ein Lärm dort überhaupt stattfindet.
Bis die Dimension der Wüste anfängt uns zu berühren… dann ist es, als ob eine wimmelnde Schicht dahin schmilzt, von uns abfällt und wir allmählich durchlässig und offen werden, uns ausdehnen. Die Dimension der Wüste kann uns berühren, wenn wir anfangen fühlend wahrzunehmen und uns mit allen Sinnen auf sie einstimmen. Es ist fast wie die Begegnung mit einem/einer Geliebten – dem Spiegel unserer Seele. Die Energie der Wüste ist unendlich kraftvoll. Seit Jahrtausenden haben die Sonne, der Wind, das Feuer, die Stille, die Sterne und Planeten auf sie eingewirkt, sie aufgeladen. Und sie wirken noch immer. Diese Energien berühren und inspirieren uns ebenfalls. Am Morgen auf der Erde liegend in dieser Landschaft aufzuwachen, zu sehen wie das Licht auftaucht, wie die Sterne allmählich verblassen und unsichtbar werden, wie wir nach einiger Zeit von den ersten Sonnenstrahlen berührt werden.. das ist wie ein Erleben von bedingungsloser Liebe. Die Sonne fragt nicht, was wir in unserem Leben alles geleistet haben, was wir auf dem Konto haben, ob wir glücklich sind oder nicht. Sie strahlt und berührt uns einfach. Es ist ein heiliger, zeitloser Moment. Über uns der endlos weite blaue Himmel, unter uns die Erde, die uns trägt.
Die Wüste ist zeitlos. Es ist eine Zeitqualität, in der alles sehr einfach und sehr einleuchtend wird. Je mehr sich die Gedanken setzen – wie die Sandkörner nach einem Sandsturm – desto mehr kommen wir an im Hier und Jetzt. In manchen Momenten des Innehaltens wird jede Handlung zum Ritual. Einfach so, anspruchslos, einfach und natürlich. Meditation geschieht von ganz alleine. Es gibt nichts zu tun als einfach zu sein. Wenn ich liege, liege ich. Wenn ich stehe, stehe ich. Wenn ich gehe, gehe ich. Wenn ich schaue, schaue ich. Wenn ich lausche, lausche ich. Neugierig, verletzlich und offen…. wie ein neugeborenes Kind. All das macht die Wüste mit uns, wenn wir „uns“ aus dem Weg gehen.
In der Wüste können wir uns die Weite einverleiben. Sehen, wie wir nur mit den Füßen auf der Erde stehen. Der Rest von uns reicht in den Himmel, der bis auf die Erde kommt. Wir verkörpern die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Der weite blaue Himmel umfasst alles – einen riesigen Berg genauso wie ein Sandkorn. Ein Blümchen genauso wie einen Tautropfen. In dieser Weite ist alles, was es ist – nicht mehr, nicht weniger. Wir müssen es nur sehen. Einsicht entsteht durch Einstimmen, in Einklang sein. Diese unendliche Dimension, welche in der Wüste im Überfluss vorhanden ist, eröffnet sich uns, wenn wir innehalten, still werden und den inneren und äußeren Lärm herunterfahren. Mit einem weiten, offenen Geist sieht alles anders aus. Die Perspektive ändert sich und wir können vieles ahnen, spüren, erkennen – manches ohne es in Worte fassen zu können. Weit über Worte hinaus.
„Als Gott die Welt erschaffen hatte, schaute er sie sich an und alles, was vom Wesentlichen ablenkte, nahm er heraus. So entstand die Wüste…“ Sprichwort der Beduinen
Im Innehalten an den heiligen Plätzen der Wüste kommen wir in Resonanz mit dieser Qualität unserer Seele, welche Mystiker, Propheten und Weise ebenfalls erkannt und beschrieben haben. Diese Erkenntnisse gehen weder gepaart mit Trompeten- und Posaunenklängen, noch mit Donner und Blitz. Sie kommen ganz leise aus der Stille, aus dem Einstimmen, aus dem tiefen Ur-Wissen, welches seit Anfang der Zeit Teil von uns ist. Die heiligen Plätze der Wüste sind überall dort, wo wir dem wieder begegnen können.
In den letzten 25 Jahren habe ich endlos viele Tage und Nächte in der Wüste verbracht. Schritt für Schritt und immer wieder neu hat sich mein stetig vertrauter werdender Weg durch die Wüste entfaltet. Es war nicht immer leicht und es hat auch manche Herausforderung gegeben. Manchmal habe ich innegehalten und nachgespürt, ob ich weiter im Sinai bleiben mag. Doch es hat sich immer richtig angefühlt, diesen Weg mutig weiter zu gehen. Was mich dabei am meisten begeistert und inspiriert hat, war die Möglichkeit, immer wieder nachts auf der Erde unter den Sternen zu liegen und die Bewegung und endlose Weite des Ganzen zu erfassen, tagsüber den weiten blauen Himmel über mir, am Feuer sitzen, die Stille, den Wind, die Sonne, den Schatten und die Urkräfte der Natur hautnah spüren. Vor allem aber: eine leise Ahnung davon zu bekommen, was es jenseits vom Leid und Chaos auf unserem Planeten auch noch gibt. Meine Reisen (siehe unter „Urlaub & Reisen“) möchte ich weiterhin durchführen, damit noch einige Menschen eine Chance haben, selber ihre Erfahrungen in der Wüste zu sammeln. Im südwestlichen Teil des Sinai sind wir tief in der Wüste bei „meinem“ Beduinenstamm bestens aufgehoben. Zum Wohle aller Beteiligten und weit darüber hinaus.
DIE AUTORIN:
Sabera Neeltje Machat Sabera Machat lebt seit 25 Jahren in der Wüste Sinai. Sie verbrachte mehrmals 40 Tage absolut alleine und auf sich gestellt tief in der Wüste und lebte einige Jahre zwischen den Beduinenstämmen der Alegat und Muzeina. Die geborene Niederländerin nahm u.a. seit 1987 regelmäßig an Retreats mit Lama Sogyal Rinpoche teil. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern und Großmutter von sieben Enkelkindern und spricht acht Sprachen – am liebsten die „Sprache ohne Worte“. Sabera ist Autorin von „Feuer der Wüste, Frau der Erde – 150 Tage alleine in der Wüste Sinai“ (1999) und „Inspiration Sinai. Reise in die Stille – die Heilende Kraft der Wüste“ (2006), „Feuer der Wüste, Frau der Erde – 150 Tage alleine in der Wüste Sinai” und „Inspiration Sinai – Reisen in die Stille: Die heilende Kraft der Wüste“. Über sie wurde 1999 der WDR-Film „Reise in die Stille: Sabera, Tochter der Wüste“ gedreht.
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