Die Lebensregel von Baltimore
Gehe ruhig und gelassen inmitten von Lärm und Hast und sei des Friedens eingedenk, den die Stille bergen kann. Vertrage dich mit allen Menschen – möglichst ohne dich ihnen auszuliefern. Äußere deine Wahrheit ruhig und klar, und höre anderen zu, auch den Geistlosen und Unwissenden; auch sie haben an ihrem Schicksal zu tragen. Meide laute und streitsüchtige Menschen, sie sind eine Qual für den Geist.
Wenn du dich mit anderen vergleichst, könntest du verbittert werden und dir nichtig vorkommen, denn immer wird es Menschen geben, die bedeutender oder schwächer sind als du. Erfreue dich am Erreichten wie auch deiner Pläne. Bemühe dich um deinen eigenen Weg, wie bescheiden er auch sein mag. Im Wandel der Zeiten ist er ein echter Besitz.
In deinen geschäftlichen Angelegenheiten lasse Vorsicht walten, denn die Welt ist voller Betrügerei. Doch soll dich das nicht blind machen für die auch vorhandene Rechtschaffenheit. Viele Menschen streben nach Idealen, und Helden gibt es überall im Leben. Sei du selbst. Vor allem heuchle nicht Zuneigung. Und sei, was die Liebe anbelangt, nicht zynisch. Denn trotz aller Öde und Enttäuschung ist sie doch ewig wie Gras.
Nimm freundlich den Ratschlag des Alters an und gib mit Würde die Dinge der Jugend auf. Stärke die Kraft des Geistes, damit er dich bei unvorhergesehenem Unglück schütze. Aber quäle dich nicht mit dunklen Gedanken. Viele Ängste kommen aus Erschöpfung und Einsamkeit. Neben einem gesunden Maß an Selbstdisziplin sei gut zu dir selbst. Genau wie die Bäume und Sterne, so bist auch du ein Kind des Universums. Du hast ein Recht, hier zu sein.
Und, ob es dir klar ist oder nicht: Das Universum entfaltet sich so, wie es sich entfalten soll. Darum lebe in Frieden mit Gott, was auch immer er für dich bedeutet. Und was immer dein Mühen und dein Sehnen ist: Bewahre in der lärmenden Wirrnis des Lebens Frieden in deiner Seele. Trotz aller Mühsal und all der zerronnenen Träume ist es dennoch eine schöne Welt. Sei heiter. Strebe danach glücklich zu sein.
Text von Max Ehrmann, 1927