Stellen Sie sich vor: der Moment, in dem Sie einen Wald betreten und in seine Atmosphäre eintauchen – ganz natürlich empfinden Sie den Impuls tief einzuatmen und die Frische und an Düften reichhaltige Luft des Waldes in sich aufzunehmen und zu genießen. Ein Moment der Entspannung und Erleichterung, in dem Ballast von Ihnen abfällt. Der Wald scheint etwas zu haben, was uns guttut.
Meine Beziehung zum Wald und allgemein zur Natur war schon seit meiner Kindheit nah und freudvoll… Momente auf Waldspaziergängen, als ich in schwarze unergründliche Höhlen bei den Baumwurzeln schaute, ganze Landschaften auf einem bemoosten und bewachsenen Baumstumpf erkannte oder mit meiner Großmutter Pilze und Beeren suchen ging … Diese Momente waren für mich geheimnisvoll und erregend, ich empfand mich als Teil einer sehr spannenden und magischen Welt. Auch als Erwachsene fühle ich mich in der Natur zuhause, habe meine besonderen Orte und Bäume zu denen ich gehe, wenn ich Abstand zum Alltag oder Trost brauche oder Kraft auftanken möchte. Die Natur hat immer noch eine magische und beglückende Wirkung auf mich.
KLEINE SOZIOLOGIE DES WALDES
2015 lebten weltweit 54 % der Bevölkerung in Städten, die Prognose für 2020 ist 56,2 %. In Deutschland lebten 2015 75,3 % in Städten, in 2020 werden es der Schätzung nach 76,4 % sein. 2050 werden zwei Drittel der Menschheit in Städten leben (UN-Bericht). Beton, Dichte, Geschwindigkeit, Lärm, Vereinsamung charakterisieren das städtische Umfeld. Stress, Belastung, Zeitdruck, lange Arbeitszeiten, unablässiges Tun und Aktivitäten kennzeichnen für ganz viele den Alltag. Zudem können wir in den modernen städtischen Gesellschaften ein Übergewicht an Rationalität, Intellektualismus und Materialismus beobachten – wir sind im Kopf, uns fehlt mehr und mehr das unmittelbare sinnliche Erleben. Der Job ist oft der Mittelpunkt des Lebens, der sehr viel von uns fordert – wo bleibt der Rest von uns?
Langfristig kann es dann geschehen, dass wir aus dem Gleichgewicht kommen, ausbrennen und nicht mehr können. Das was uns als ganzen Menschen ausmacht, müssen wir uns dann wieder hereinholen in unseren Alltag und integrieren, was lange vernachlässigt wurde. Wir müssen uns fragen, was unserem Leben Sinn gibt, wer wir wirklich sind jenseits von Leistung und dem Funktionieren in unseren Alltagsrollen. Auf der Suche nach Ausgleich, Sinngebung und Heilung entdecken viele dabei die Natur als Ressource, und hierbei speziell den Wald als heilenden, kraft – spenden Ort.
BIOPHILIA – DIE LIEBE ZUR NATUR
Als Spezies Mensch haben wir 99,99 % der Zeit unserer Existenz in der Natur gelebt. Die Natur war sehr lange unser Zuhause. Erich Fromm, Psychotherapeut und Philosoph, nannte die Liebe des Menschen zur Natur und zum Lebendigen Biophilia (griechisch: Liebe zum Leben). Der US-amerikanische Evolutionsbiologe und Universitätsprofessor Edward O. Wilson beschreibt Biophilia als das menschliche Bedürfnis, sich mit anderen Lebewesen zu verbinden. Der Mensch komme aus der Natur und habe sich in ihr und im Wechselspiel mit ihr entwickelt. Der Mensch sei ein Teil der Natur, in dem dieselbe Lebenskraft wirke wie auch in den Tieren und Pflanzen. Der Musiker und Journalist Andreas Danzer prägte den Satz: „Wir haben Wurzeln und die sind definitiv nicht in Beton gewachsen.“ Und Clemens Arvay spricht vom Biophilia- Effekt (1), der eintritt, wenn wir uns mit unseren Wurzeln verbinden – eine wohltuende Resonanz zwischen Menschen und Natur. Der Biophilia-Effekt bei einem Waldaufenthalt bringt uns wieder in Kontakt mit der Seite unseres Menschseins, die zur Natur gehört, Natur ist und uns die alles verbindende Lebenskraft spüren lässt.
GESCHENKE DES WALDES
Aus Japan kommen sowohl Inspiration als auch wissenschaftliche Unterstützung für die Entdeckung des Waldes als Ressource für Stressabbau, Gesundheit und Regeneration zu uns. Seit 1982 ist in Japan das „Waldbaden” (shinrin-yoku) als stressabbauend und gesundheitsfördernd anerkannt und wird vom Gesundheitsministerium als Präventivmedizin gefördert. Prof. Myazaki führt seit 2000 sehr ausgedehnte und gründliche Untersuchungen durch, deren Ergebnisse belegen, dass ein Aufenthalt im Wald sowohl Stresssymptome abbaut als auch das Immunsystem stärkt sowie zur inneren und äußeren Entspannung und Regeneration beiträgt. Deswegen prägte er auch den Begriff Waldtherapie (2). Ich spreche gerne vom Wald als ein Haus der Heilung – für Körper und Seele. Diese Gabe spendet der Wald bedingungslos und kontinuierlich.
WALD-ERFAHRUNG
Um davon aber tatsächlich profitieren zu können, müssen wir uns bewusst, offen und neugierig dem Wald, den Bäumen, Pflanzen, der Luft zuwenden, aktiv in eine Verbindung zu ihnen treten, uns der Waldatmosphäre mit all unseren Sinnen öffnen. Ein Waldbad bedeutet, dass wir uns langsam und auf einer eher kurzen Strecke etwa zwei bis vier Stunden im Wald bewegen, dass wir Zeit damit verbringen innezuhalten, zu lauschen, zu betrachten, zu berühren und uns berühren zu lassen von dem, was uns umgibt. Auch Zeit, einfach nur da zu sein, zu sitzen oder zu liegen und die Gedanken fliegen zu lassen, ist Teil des Waldbades. Achtsamkeit ist dafür eine wichtige Ressource. Wir üben Achtsamkeit, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Erfahrungen des gegenwärtigen Moments richten, in einer annehmenden und nicht wertenden Weise – offen dafür, was wir erleben, ohne Absicht, ohne etwas dadurch erreichen zu wollen. Wir sollten für die Zeit, die wir im Wald verbringen, unsere Ziele, Erwartungen, Konzepte und unser Streben beiseitelegen und uns überraschen lassen von dem, was hier und jetzt geschieht. Der Wald ist jetzt unser Gegenüber und er urteilt nicht und erwartet keine Leistung oder ein bestimmtes Verhalten von uns. Er lässt uns so sein wie wir sind. Können auch wir uns selbst so sein lassen wie wir sind, von Moment zu Moment?
Auf diese Weise kann ein Waldbad nicht nur eine zusätzliche gesunde Freizeitaktivität sein, sondern ein Schritt zu uns selbst, zur Entdeckung dessen, wer wir in unserer Ganzheit sind. Natur hat durch ihre Offenheit und Präsenz das Potenzial uns direkt in das Herz der Achtsamkeit zu versetzen – „die Entdeckung und Kultivierung der Verbundenheit mit dem, was das Beste und Tiefste in uns Menschen ist”, wie Jon Kabat Zinn es ausdrückt.
Kann sein, dass wir dann auch vergessen können, was uns Tag für Tag in Atem hält, unseren Atem anhält, und wir eine neue Priorität setzen, getreu nach Peter Handke: „Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte.” Kann auch sein, dass dann ganz von selbst unsere Verantwortung für den Erhalt der Natur und des Waldes in uns wächst, um ein Geschenk an den Wald zurückzugeben.
- Clemens Arvay, „Der Biophilia-Effekt. Heilung aus dem Wald.”
- Prof. Yoshifumi Myazaki, „Shinrin Yoku, Heilsames Waldbaden: Die japanische Therapie für innere Ruhe, erholsamen Schlaf und ein starkes Immunsystem.”

DIE AUTORIN:
Ihre eigene über 25-jährige Meditationspraxis führte die Soziologin Helene Wisser zu MBSR (Stressbewältigung durch Achtsamkeit). Seit 14 Jahren gibt sie Kurse und Coachings auf Basis von Achtsamkeit und zählt zu den ersten MBSR-Trainerinnen in Deutschland. Sie führt ihre Praxis für achtsames Leben in München und das Landhaus für achtsames Leben in Weyarn, ein Ort des Rückzugs aus dem städtischen Trubel. Zusammen mit Ihrem Mann Carlos Ponte entwickelte sie ein Programm zur achtsamkeitsbasierten Waldtherapie.
Kontakt
Web: www.mbsr-praxis-muenchen.com
E-Mail: helene.wisser@web.de