Wir leben in einer Zeit, die an Seelenverlust leidet. In der Schule hat man uns beigebracht, die Welt sei unbelebt, das Universum tot, und wir selbst seien eine Insel des Lebens in einem leblosen Universum. Wir haben gelernt, Sterne seien nicht etwa die Augen Gottes, sondern nukleare Schmelzöfen, die im Laufe der Zeit zu weißen Zwergen zusammenschrumpfen und eines Tages explodieren werden, wobei sie dann ihr totes Innenleben in die Leere des Weltalls hinausschleudern. Wir haben gelernt, zu viele Dinge zu erklären. Für ein Indianerkind, das hoch oben in den Anden oder in einem Hopi-Reservat im amerikanischen Südwesten aufwächst, ist das Leben noch ein Mysterium; der Himmel ist auf unerklärliche Weise wunderbar, die Felsen sind Wesen, die zu uns sprechen und bei denen wir uns Rat holen können. Sie wissen, dass Flüsse keine Lügen verbreiten und Berge, wenn sie uns etwas zuflüstern, dies in einer Sprache tun, die am ersten Tage der Schöpfung gehört wurde.
Ich erinnere mich, dass ich einmal mit einem befreundeten Missionar im peruanischen Hochgebirge unterwegs war. Wir befanden uns auf einer Höhe von mehr als 4000 Metern, wo die Luft frisch und kühl ist. Dort entdeckten wir einen Jungen, der auf einem großen Stein saß. Er war nicht älter als zwölf. Als wir näher kamen, bot ich ihm ein paar trockene Brötchen an, die ich in meiner Gürteltasche aufbewahrt hatte. Er strahlte vor Freude, bedankte sich bei mir und rannte nach Hause zurück. Mein Freund, der erst vor kurzem das Priesterseminar verlassen hatte, erklärte mir, wie weh es ihm täte, solche Bettler zu sehen. Ich erinnere mich, dass ich mich ihm zuwandte und meinte, dieser Junge sei kein Bettler, sondern ein Krieger, der unter dem Sternenhimmel schlafe und des Nachts nur von seinem kleinen Poncho gewärmt würde.
Für diesen Jungen und für alle indigenen Völker – seien es die australischen Aborigines, die afrikanischen Völker südlich der Sahara oder die Dorfbewohner Tibets – ist die Erde ein Ort, der belebt ist und eine Seele hat. Und die Fäden unserer eigenen Seele sind eng mit dem Geflecht der Seele der Erde verwoben. Der lateinische Begriff anima (wie er im Englischen animate = belebt vorkommt, Anm. d. Ü.) bedeutet „Seele“. Und ein Preis, den wir für unsere materialistischen Technologien und unsere materialistische Philosophie bezahlen, ist der, dass wir den Kontakt zu unserer eigenen Seele und zur Seele der Erde verloren haben. Wir haben eine unbelebte, seelenlose Welt geerbt.
Wie konnte das geschehen? Einige meinen, es habe in der Renaissance begonnen. Im Jahr 1564 beriefen die Würdenträger der katholischen Kirche das Konzil von Trient ein, um festzulegen, ob Frauen, Tiere und Indianer Seelen hätten. Nach langen Auseinandersetzungen wurde entschieden, dass Frauen in der Tat eine Seele hätten. Doch genauso unmissverständlich und einhellig erklärten die weisen Kirchenmänner, dass Indianer und Tiere keine solche besäßen. Das gab den Konquistadoren die Freiheit, Indianer, Tiere und die Natur gleichermaßen zu unterjochen. In den ersten einhundert Jahren nach der Eroberung Mittel- und Südamerikas starben 60 Millionen Indianer, weil sie – die ja keine Seele besaßen – wie Lasttiere auf Feldern und in Bergwerken schuften mussten. Zweihundert Jahre später gelangte René Descartes zu seiner berühmten Erkenntnis „Ich denke, also bin ich”. Für ihn gliederte sich die Realität in subjektive und objektive Phänomene, in Materie und Geist. Materie war nicht der Stoff, aus dem der Geist bestand. Die Erde war nicht spirituell und wir mussten sie pflügen, sie umgraben und uns mit ihr abmühen, um uns verpflegen zu können. Der Geist war ein unberührbarer Fremder, zu dem wir erst gelangen konnten, wenn wir unsere äußere Form, unseren physischen Körper abgelegt hatten. Der Begriff „Materie“ stammt vom lateinischen mater, das heißt „Mutter”, ab. Mit Descartes haben wir die endgültige Trennung vom Weiblichen, von Mutter Erde vollzogen. Sämtliche alten Mythologien sind durch die Naturwissenschaften ersetzt worden. Objektivität und Vernunft wurden zur neuen Realität. Zu dem Göttlichen in uns konnten wir nur durch Buße und Gebet Zugang bekommen und nicht durch persönliches Erwachen oder direkte Offenbarung. Es geschahen keine Wunder mehr. Wir vergaßen, dass unsere vermeintliche Realität lediglich diejenigen Mythen sind, die wir noch nicht ganz durchschaut haben. Dass sie für uns genauso unsichtbar sind wie die Luft, die wir atmen.
Die Seele ermöglicht es uns, dem Mysterium der Schöpfung ins Auge zu blicken. Als Anthropologe habe ich mich immer darüber gewundert, dass wir (Europäer und Amerikaner) die einzigen Völker sind, die aus dem Paradies vertrieben wurden. In allen anderen Schöpfungsmythen, wie den hinduistischen, buddhistischen und indianischen, wurde den Menschen der Garten überlassen, damit sie ihn hegten und pflegten. Einzig und allein in der jüdisch-christlichen Tradition werden die ersten Kinder der Erde aus dem Paradies vertrieben. Sie verlernten die Sprache der Flüsse und der Berge und sprachen nicht länger zu Gott. Man sagte ihnen, sie könnten jede Frucht verzehren, nur vom Baum der Erkenntnis dürften sie nicht essen. Doch sie taten es, als erste die Frau, unsere erste Mutter. Und wir wurden dafür bestraft, dass wir die verbotene Frucht gekostet hatten. Auch in schamanischen Kulturen gibt es Tabus, wie etwa das Inzesttabu, die das Überleben des Stammes sicherstellen. Doch es gibt auf der ganzen Welt keine einzige Mythologie, die einen Menschen dafür bestraft hat, dass er die Frucht vom Baum der Erkenntnis, das Mysterium und die weibliche Lebensweise gekostet hat, wie sie durch Eva repräsentiert wurden. Jede Kultur hat ihren eigenen unmittelbaren Zugang zum Wissen: Indianer gewinnen ihn durch ihre Visionssuche, Aborigines durch die Buschwanderung, buddhistische Mönche durch Kontemplation und Stille.
Unser Seelenverlust im Westen ist kein neues Phänomen. Er hat wahrscheinlich im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus begonnen, als viele biblische Bücher im Hinblick auf ihre Relevanz neu bewertet wurden. Um 79 genau zu sein, geschah dies im Jahr 212 n.Chr. Die katholische Kirche war gerade zur Heiligen Römischen Kirche geworden. Nach vielen Jahren hatte die Verfolgung von Christen endlich aufgehört. Die Kirche hatte einen neuen Bund geschlossen, dieses Mal jedoch nicht mit dem Sohn Gottes, sondern mit dem Römischen Kaiser. Die Kirche fing an, den Himmel als Gelobtes Land zu definieren, das man nur am Ende aller Tage bzw. im nächsten Leben betreten konnte. Vorbei war die Zeit persönlicher mystischer Erlebnisse und der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott. Vorbei die Zeit des unmittelbaren Erlebens des Göttlichen. Vorbei war auch die Zeit der Wunder. Stattdessen nahm die Inquisition ihren Anfang, gerade als Descartes damit beschäftigt war, den letzten Punkten seiner neuen Lehre von der wissenschaftlichen Objektivität den allerletzten Schliff zu verleihen.

DER AUTOR:
Alberto Villoldo ist medizinischer Anthropologe und Psychologe.
Mit 25 Jahren war er der jüngste medizinische Professor an der Universität von San Francisco. Während dieser Zeit hat er erforscht, wie der Geist psychosomatisch auf Gesundheit und Krankheit einwirkt. Außerdem studierte er über 25 Jahre spirituelle Praktiken im Amazonasgebiet und in den Anden. Er ist Autor zahlreicher Bücher.
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