Die heilende Kraft der Wüste
Im Laufe der Jahre ist es Tradition geworden, dass wir im Frühjahr mit einer kleinen Gruppe Europäern knappe drei Wochen tief in der Wüste Sinai verbringen – davon ist jeder zwölf Tage ganz alleine an einem geschützten Platz mit sich und der Natur. In einem Gebiet, weit abseits von Asphaltstraßen, Handynetzen oder Häusersiedlungen, wo es nur noch Steine, Sand, Canyons, Höhlen, Weite und enge Täler gibt, wird ein Beduinenzelt aufgestellt – als Mittelpunkt von unserem Basislager.
Hier haben die Beduinen bereits einige Tage vor unserem Eintreffen angefangen, alles für unseren Aufenthalt vorzubereiten – an diesem Ort, wo normalerweise kein Mensch überleben kann. Sie haben in der kargen Landschaft Brennmaterial gesammelt, um Feuer zu machen, Wasser in großen Kanistern herangefahren, um kochen und abwaschen zu können, das Zelt hergebracht und aufgebaut, Koch utensilien, Teppiche, Decken und unzählige Flaschen mit Mineralwasser mehr als hundert Kilometer von der Küste, teilweise durch den Sand, bis hierher transportiert. Ein gemeinsamer Kraftakt meines Beduinenteams, der nur durch Durchhaltevermögen, Geduld, Geschicklichkeit und Fahrkunst bewältigt werden kann. Die Jahrhunderte alten Traditionen, ihre eigenen Gesetze, der Zusammenhalt der Beduinen und die selbstverständliche Natürlichkeit ihres Seins in der Wüste machen dies möglich. Es ist sehr beruhigend, dass diese Menschen mit allem in dieser wilden Natur umzugehen wissen und uns daher optimal begleiten und beschützen können. Jeder kennt Jeden im südlichen Sinai und ein „Fremder“, der nicht hierher gehört, würde sofort erkannt und nach dem Grund seines Aufenthaltes gefragt werden. Da viele Beduinen „meines“ Stammes auf irgendeiner Weise im Hintergrund mit meinen Reisen zu tun haben und dadurch auch Geld verdienen, sind sie sehr daran interessiert, uns so gut wie möglich zu unterstützen und zu beschützen.
Die Plätze sind sehr unterschiedlich. Mal oben am Fels mit weiter Sicht, mal eingebettet in einem Flussbett, einem Canyon, einer Höhle, ein kleines Tal mit vielen Pflanzen und Blümchen – wie der Garten Gottes – oder ein monumentaler Platz in riesigem Urgestein. Gemeinsam haben alle Plätze, dass es auch Schatten gibt – ohne diesem wäre es unmöglich in der Wüste zu weilen. Und die Sicht auf dem weiten blauen Himmel und die Sterne des Nachthimmels. Es ist tief berührend, Tag für Tag, Nacht für Nacht zu beobachten, wie die Sterne abends sichtbar werden, sich über den Himmel bewegen, der Mond aufgeht, wächst, abnimmt, untergeht, die Sterne wieder verschwinden, die Sonne aufgeht, es heiß wird, die Schatten sich verändern und die Sonne wieder untergeht. Sich diesen Rhythmus einfach wieder einzuverleiben ist Heilung pur. Diese Natürlichkeit, die uns so sehr abhanden gekommen ist in der Welt mit künstlichem Licht und Internet…
Auf der Erde zu liegen und das Ganze zu beobachten, die Stille zu hören. Oder den Wind, der eine Runde über die umliegenden Berge dreht und dann irgendwann auch dein Gesicht berührt. Nichts tun zu müssen, außer schauen, hören, fühlen, riechen, schmecken. Leer werden und nur deinen Impulsen folgen. Wenn du Hunger verspürst – etwas essen, Feuer machen, Tee kochen oder einen kleinen Kaffee zubereiten. Viel Wasser trinken, um dich zu reinigen und loszulassen. Meditieren. Sitzen. Stehen. Liegen. Schauen. Oder deine Tasche ein- und auspacken. Mandalas legen aus Steinchen. Türmchen bauen aus Steinen. In den weiten Himmel schauen…
Irgendwann im Laufe dieser Tage und Nächte, wenn du alles gedacht hast, was man denken kann, alles getan hast, was man tun kann, alles gesungen hast, was man singen kann, alles geschrieben hast, was man schreiben kann – dann kann es sein, dass du plötzlich einfach still bist. Nur das. Die Perspektive ändert sich und du erinnerst dich, wie es ist, einfach zu sein. Wie damals, in der Gebärmutter – jetzt hier auf der Mutter Erde. Irgendwann, im Laufe dieser Tage und Nächte, wird es auch ganz normal hier zu sein. So vertraut die Stille, so vertraut das Feuer machen, so vertraut die Sterne, der Mond, die Sonne und die Schatten… Es ist, als ob ein riesiger Knoten, welchen du dir im Laufe deines Lebens gebastelt hast, anfängt, sich zu lockern. Tiefe Entspannung… Manchmal passiert es aber auch, dass Teile des Knotens sich noch einmal mit voller Wucht melden, sei es in Form von Gedanken, Emotionen, Bewegungen oder was immer. In der Weite dieser Ur-Natur hat es Platz und kann einfach da sein. Auch dann ist es hilfreich, die Perspektive zu ändern – das geschieht manchmal ganz von alleine, ohne etwas dazu tun zu müssen. Die Wüste macht es für dich. Einfach so.
Manche Menschen berichten mir, dass sie nach diesem Aufenthalt in der Wüste viel mehr Klarheit, Gelassenheit, Weitsicht, Freude und ganz neue Impulse und Perspektiven haben. Es ist, als ob wir in der Wüste einen lange verloren gegangenen Meisterschlüssel wieder finden. Wenn wir dazu bereit sind, natürlich. Viele kommen auch wieder und meinen, sie brauchen immer mal wieder diese Tankstelle, um sich zu erholen von der Hektik im Alltag. Ein Wüsten-Aufenthalt habe die Qualität von jahrelangen Therapien. Die große natürliche Einfachheit der Wüste weckt uraltes Wissen, das wir tief in uns immer schon gehabt haben. Wir müssen uns nur selbst aus dem Weg gehen.
Wer nicht gleich ganz alleine eine Zeit in der Wüste verbringen möchte, hat auch noch andere Möglichkeiten, an einer Wüstenreise teilzunehmen. Die Reisen „Stille und Einfach Sein“ oder „Weihnacht und Jahreswende in der Wüste Sinai“ bieten eine sehr gute Möglichkeit, sowohl alleine als auch eingebettet in der Gruppe Zeit in der Wüste zu verbringen. Auch hier ist ein Beduinenzelt Mittelpunkt unseres Basislagers. Hier treffen wir uns zum Frühstück und zum von den Beduinen auf dem Feuer zubereiteten schmackhaften Abendessen.
Am Morgen gibt es eine gemeinsame Meditation bzw. Körper-, Atem- und Energiearbeit oder Sensibilisierungsübungen. Tagsüber ist dann jede/r TeilnehmerIn mit sich alleine in unserem Gebiet unterwegs.
Es gibt viele schöne Plätze zum einfach Verweilen. Nachts schlafen wir auf der Erde unter den Sternen. Es hat viele Jahre geduldige und sorgfältige Arbeit meinerseits gebraucht, bis die Beduinen zu dem zuverlässigen Team wurden, welches sie jetzt sind. Jetzt ist es normal, dass sie auch still sein können, wenn die Gruppe still ist, dass sie nicht in Panik geraten, wenn mal jemand vor Rührung weint, oder Menschen sich gegenseitig in den Arm nehmen. Es war ein langer Weg, den ich Schritt für Schritt gegangen bin und der sich erst im Gehen offenbart hat. Zum Wohle aller Beteiligten und weit darüber hinaus.
DIE AUTORIN:
Sabera Neeltje Machat Sabera Machat lebt seit 25 Jahren in der Wüste Sinai. Sie verbrachte mehrmals 40 Tage absolut alleine und auf sich gestellt tief in der Wüste und lebte einige Jahre zwischen den Beduinenstämmen der Alegat und Muzeina. Die geborene Niederländerin nahm u.a. seit 1987 regelmäßig an Retreats mit Lama Sogyal Rinpoche teil. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern und Großmutter von sieben Enkelkindern und spricht acht Sprachen – am liebsten die „Sprache ohne Worte“. Sabera ist Autorin von „Feuer der Wüste, Frau der Erde – 150 Tage alleine in der Wüste Sinai“ (1999) und „Inspiration Sinai. Reise in die Stille – die Heilende Kraft der Wüste“ (2006), „Feuer der Wüste, Frau der Erde – 150 Tage alleine in der Wüste Sinai” und „Inspiration Sinai – Reisen in die Stille: Die heilende Kraft der Wüste“. Über sie wurde 1999 der WDR-Film „Reise in die Stille: Sabera, Tochter der Wüste“ gedreht.
Kontakt
Web: www.sinai.heart-of-the-earth.com
E-Mail: sabera@heart-of-the-earth.com