In unserer herrschenden Kultur von Spaß-Gesellschaft und Konsumismus werden vielerlei pseudo-positive Ideale verbreitet: viel Geld verdienen, cool und erfolgreich sein und das Ego aufblähen. Und wer es nicht schafft, dauernd glücklich zu sein, dem sollen motivierende Lesefrüchte weiterhelfen beziehungsweise Erfolgsseminare oder Powertrainings von Vera Birkenbihl bis Jürgen Höller.
9.00 Uhr: Frau A. kommt zur Therapie: Ihre Tochter ist neun Jahre alt und macht nachts immer noch ins Bett.
10.00 Uhr: Herr B. sitzt mit einer schweren Depression vor mir und gesteht, dass er manchmal an Selbstmord denkt.
11.00 Uhr: Herr und Frau C. kommen, weil ihre Ehe in die Brüche zu gehen droht, Herr C. hat ein Verhältnis…
Ein ganz normaler Vormittag…
Wie gehe ich als Familientherapeutin an die Probleme meiner Klienten heran?
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass bei diesen Beispielen gar keine vollständige Familie dabei war. In der Tat ist es eher selten, dass eine komplette Familie in die Praxis kommt, aber Familientherapie ist grundsätzlich auch ohne Familie möglich. Wie bei einem Mobile beeinflusst das Verhalten des einen immer auch das Verhalten der Nichtanwesenden anderen.
Als Familientherapeutin nehme ich eine relativ aktive Rolle ein, stelle eine Reihe von Fragen, bei denen ich auch Nichtanwesende mit einbeziehe, und gebe zum Schluss meist eine Art Hausaufgabe. Der Hauptunterschied zu anderen Therapieformen besteht jedoch vor allem in der anderen Form der Sichtweise: In der Familientherapie wird der Mensch nicht nur als Individuum betrachtet, wie zu Freuds Zeiten, sondern als Teil des „Systems Familie“, in das er eingebunden ist und in dem er bestimmte Funktionen übernimmt. Seine Probleme werden gesehen als Reaktionen auf Spannungen oder Krisen in der Familie und der gestörten Kommunikation. Deshalb ist es entscheidend, dass nicht nur der „Symptomträger“ behandelt wird, sondern dass man der familiären Beziehungsdynamik auf die Spur kommt.
Wie kommt es nun zu krankhaften Symptomen?
Das selbstregulierende „System Familie“ versucht, im Gleichgewicht zu sein, muss sich aber dabei ständig an eine sich wandelnde Umwelt anpassen.
In manchen Situationen sind jedoch Krisen vorhersehbar (Heirat, Geburt, Pubertät, Tod …), die besondere Anpassungsleistungen und Neuorientierungen verlangen. Falls diese Anpassungen unterbleiben, entsteht oftmals ein krankhaftes Verhalten.
Ich verstehe das Symptom des Klienten nicht nur als Einschränkung, sondern ebenso als Lösungsversuch einer problematischen Situation, als Signal, dass hier in der Familie etwas nicht im Lot ist. Der Symptomträger – oft das Sorgenkind oder schwarze Schaf der Familie – tut also in erster Linie etwas für die Familie. Nachdem dies erst einmal entsprechend gewürdigt ist, können wir schauen, wie die Lösung des Problems auf andere Art und Weise bewerkstelligt werden kann.
Ganz oft übernehmen Kinder diese Ausgleichsarbeit. Ihre Hauptfunktion besteht meist darin, die Familie zusammen zu halten, auf welche Weise auch immer. Sie machen es unbewusst aus Liebe zu den Eltern und außerdem hängt ja schließlich ihre Existenz davon ab. Wenn ein Kind zum Symptomträger in der Familie wird (z.B. durch Magersucht, Bettnässen, Probleme in der Schule etc.), bringt es dadurch die Eltern, die vielleicht gerade in einer Beziehungskrise stecken, in der gemeinsamen Sorge um das Kind automatisch wieder näher zusammen. Das Symptom, das ein Kind hervorbringt, weist die Eltern immer auf ihre Beziehung. Die Kinder bringen das Unbewusste der Eltern und deren Beziehung zum Ausdruck. (Dies ist wohlgemerkt der systemische Aspekt des Problems, dessen sich die Familientherapie annimmt. Dann gibt es natürlich noch den medizinischen, den sozialen usw.)
Wenn die Eltern nun beginnen, sich mit ihrer Beziehung auseinander zu setzen und diese zu klären – was gleichbedeutend ist mit Verantwortung dafür zu übernehmen – brauchen dies nicht mehr die Kinder tun.
Als Familientherapeutin ziele ich also auf die Veränderung der Interaktionsmuster innerhalb der Familie. Gelingt dies, dann wird das Symptom nicht mehr gebraucht und verschwindet wie von selbst.
Um sich aus Beziehungsverstrickungen zu befreien, kann es für den Erwachsenen manchmal dennoch notwendig werden, in die eigene Ursprungsfamilie zu schauen. Probleme mit dem Partner weisen häufig zurück zu ungelösten Mutter- bzw. Vaterkonflikten. Solange man nicht wirklich von Vater und Mutter gelöst ist, wird man den Partner immer wieder mit einem der beiden „verwechseln“, wird ihm Signale aussenden, die eigentlich zu Vater oder Mutter gehören, und ganz erstaunt sein, wenn er plötzlich wie einer von den beiden reagiert! Damit dies nicht mehr passiert, sollte man sich als Erwachsener von der Aufgabe lösen, die man als Kind für die eigenen Eltern zu bewältigen versuchte.
So eine Aufgabe könnte z.B. sein: „Ich muss für den Papa die bessere Frau sein, Mama schafft es ja nicht, ihn glücklich zu machen.“ Wenn eine Frau im Alter von 50 Jahren unbewusst immer noch mit dieser Aufgabe beschäftigt ist, braucht sie sich nicht wundern, wenn es mit ihrer eigenen Beziehung nicht zum Besten steht. Als Kind hat sie aus Liebe versucht, dieses Gleichgewicht in der Familie herzustellen – als Erwachsene muss sie die Aufgabe zurückgeben, um frei für ihr eigenes Leben zu werden.
Ansonsten werden auch ihre Kinder womöglich (wieder aus Liebe) die Verantwortung für sie übernehmen, und so muss sich alles wiederholen … Über Generationen hinweg können die Kommunikationsmuster und Glaubenssätze unserer Herkunftsfamilie so die Art und Weise bestimmen, wie wir uns auf das Leben einlassen.
Wie kann man nun diese Verstrickungen, die unser Leben unbewusst so stark beeinflussen und prägen, auflösen?
Eine erstaunlich wirksame Methode der Systemischen Familientherapie ist das Stellen einer sogenannten „Familienskulptur“. Damit ist es möglich, Probleme und deren Wiederholungen aus einem erweiterten Blickwinkel zu sehen. Ein Beispiel soll diese Methode demonstrieren:
Ein junger Mann, 23 Jahre alt – ich nenne ihn hier Roland – kommt in die Therapie. Er musste vor zwei Monaten wegen einer Psychose vier Wochen stationär in der Psychiatrie behandelt werden. Auch jetzt muss er noch Tabletten einnehmen.
Im Seminar wählt Roland aus den Teilnehmern der Gruppe Stellvertreter für seinen Vater, seine Mutter, seine beiden Schwestern und für sich selbst aus und stellt sie in der Mitte des Raumes auf, d.h. er sucht für jeden spontan einen passenden Platz aus, drückt dabei durch den Abstand der Personen und durch ihre Blickrichtung aus, wie sie innerlich untereinander in Beziehung stehen. Sobald alle Personen auf ihrem Platz stehen, entsteht auf erstaunlich beeindruckende Weise die Atmosphäre dieser Familie – deutlich für alle spürbar. Roland kann jeden fragen, wie es ihm geht. Zu seinem Erstaunen antworten die aufgestellten Personen im Originalton von Vater, Mutter und Geschwistern.
Roland stellt seine Eltern einander gegenüber, aber weit voneinander entfernt auf. Jede seiner Schwestern ist jeweils einem Elternteil näher, sich selbst stellt er genau zwischen Vater und Mutter (Abb.1). Seine Rolle in der Familie wird klar: Er ist das Bindeglied zwischen den sich streitenden Eltern. Aber er ist dabei überfordert. (Sein Stellvertreter klagt über Kopfschmerzen.)
Ich lege ein Seil um Vater, Mutter und Rolands Stellvertreter und fordere diesen auf, jetzt mal „in die Psychose“ zu gehen. Er geht los, und Roland kann jetzt sehen, was er damit systemisch für seine Eltern tut (Abb. 2): Er bringt sie wieder zusammen.
Die weitere Arbeit wäre nun, dass Roland den Eltern die Aufgabe, für ihre Beziehung zu sorgen, zurück gäbe (z.B. durch eine symbolische Interaktion während so einer Aufstellung. Solche Bilder wirken im Unbewussten tief und lange anhaltend nach). Was immer sie damit machen, es ginge ihn nichts mehr an. Mit seiner Einmischung stellt er sich im Grunde über die Eltern, will ihnen sagen wie`s geht. Wenn er es schafft, wirklich „Sohn“ zu sein, und seine Eltern zu nehmen wie sie sind, wird die Energie frei, die er braucht, um die Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. Dies alles braucht Zeit…
Als Familientherapeutin biete ich ihm an, ihn auf dem Weg dorthin zu begleiten…
Helfen kann er sich letztlich nur selbst.
Die Systemische Familientherapie wurde in den fünfziger Jahren in Amerika von Gregory Bateson, Fritz Perls, Virginia Satir und Milton H. Erickson entwickelt. In Deutschland wird seit ungefähr 25 Jahren systemisch gearbeitet. Wegbereiter waren Paul Watzlawick, Bert Hellinger, Peter Müller-Egloff – um nur ein paar Namen zu nennen.
Erfahrungsgemäß stellt sich der Erfolg bei dieser Arbeit ziemlich schnell ein, manchmal schon nach zehn Sitzungen. Dies nicht zuletzt, weil ein Familientherapeut seinen Fokus hauptsächlich auf die Ressourcen seines Klienten und nicht auf seine Probleme legt, weniger auf die Vergangenheit als auf Gegenwart und Zukunft schaut, weniger auf die genaue Analyse bedacht ist als viel mehr auf die Lösung der Probleme.
DIE AUTORIN:
Eva Orinsky, System. Familientherapeutin und Lehrtherapeutin im Ausbildungsteam der GST (Ges. für System. Therapie) in München
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