von Shiva Ryu
Gelegentlich werde ich von Leuten gebeten, einen Meditationskurs anzubieten. Sie würden gern meine Schüler sein. Es würde jedoch keinerlei Sinn machen, weitere Schüler aufzunehmen, wo ich nicht einmal dem einzigen Schüler, den ich habe, etwas richtig beizubringen vermag. Das Schicksal hat uns zusammengeführt, und er geht seit vielen Jahren bei mir in die Schule, ohne dass er nennenswerte Fortschritte macht. Mal geht er in seiner Gedankenflut unter, mal taucht er wieder auf, und das immer und immer wieder. Habe ich das Gefühl, er würde endlich oben auf der Welle schwimmen, zieht es ihn sogleich in die Tiefe, und er rudert panisch mit den Armen. Ich frage mich ernsthaft, wie er das große Meer des Lebens durchqueren soll.
Ich habe meinen Schüler auf eigene Kosten mit nach Indien und in den Himalaya genommen, mit ihm die verschiedensten Meditationszentren besucht und ihn allen meinen Lehrern vorgestellt. Aber was er an Erkenntnissen gewonnen hat? Ja, ob er überhaupt etwas begriffen hat? Ich habe keine Ahnung! Er möchte unbedingt die Geheimnisse jenseits der ihm bekannten Welt ergründen, aber leider scheint ihm jegliches Talent für den zu gehenden Weg zu fehlen. Ich frage mich, wie um Himmels Willen ich ausgerechnet an diesen Schüler gekommen bin, wo ich doch ein derart spiritueller Mensch bin. Manchmal glaube ich, dass es etwas Karmisches sein muss.
Die größten Probleme hat mein Schüler damit, seine Gefühle zu steuern. Nicht er steuert sie, sie steuern ihn. Seine Gedanken haben ihn voll im Griff und zerren ihn selbst im Traum noch hin und her. Er hat ständig etwas anzuzweifeln und zu analysieren, und darum verschiebt er das Leben, das er eigentlich gerne leben würde, immer wieder auf später. Dennoch läuft nichts wie geplant, zumal seine Berechnungen mehr als lückenhaft sind. Wegen seines unablässigen Gedankenandrangs verpasst er, was wirklich wichtig ist. Darin ist er Weltmeister! Er hat zwar im Geist stets den Hammer und das Eisen in der Hand, um damit sein Glück zu schmieden, aber alles, was er schmiedet – kunstvoll, wohlbemerkt –, ist sein eigenes Leid. Er schafft es einfach nicht, Dinge, die er nicht ändern kann, loszulassen.
Ausgesprochen gut dagegen beherrscht er die Kunst, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden; zwischen schön und hässlich, richtig und falsch, sympathisch und unsympathisch. Darin ist er Experte. Gäbe es einen Nobelpreis für das Beurteilen von Unterschieden, er hätte ihn längst bekommen. Ein Blick genügt, und er weiß, ob Baum oder Rose, Frau oder Mann, positiv oder negativ, interessant oder langweilig und so weiter. Während er andere nach ihren Taten beurteilt, zählt bei ihm selbst allein die Absicht, und für die gibt er sich gute Noten. Nicht selten bin ich versucht, ihm eine kräftige Kopfnuss zu geben. Er ist unmöglich!
Seine Fähigkeit, aus dem gegenwärtigen Augenblick zu flüchten, ist ebenfalls bemerkenswert. Er ist ungemein geübt darin, sich in Gedanken zu verlieren und das Hier und Jetzt zum reinen Hirngespinst zu machen. Er sitzt im Bus, ohne im Bus zu sein, und er läuft am Strand entlang, ohne am Strand zu sein. Es ist, als würde er die Welt durch ein verkehrt herum gehaltenes Fernglas betrachten.
Seine allergrößte Begabung aber liegt darin, sich mit Dingen zu identifizieren. Gedanken oder Emotionen macht er sich sekundenschnell zu eigen. Lob und Kritik bezieht er sofort auf sich, was ihn zuverlässig aus der Bahn wirft. Was auch immer mit dem menschlichen Körper geschehen mag – Geburt, Alter, Krankheit und Tod – ist nichts als eine physische Veränderung; er aber meint, es sei er selbst, der da geboren wird, altert, erkrankt oder stirbt. Er begreift nicht, dass der Mensch erst dann frei ist, wenn er nichts mehr persönlich nimmt, und so zappelt sein Geist wie ein Fisch auf dem Trockenen, wieder und immer wieder.
Ganz groß ist er darin, Probleme zu schaffen, wo keine sind, Glücksmomente zu vergessen und stattdessen ungute Erinnerungen wie einen Krug mit Honig aufzubewahren. Er übersieht, dass er selbst es ist, der das „schlechte Wetter” draußen in sich hineinholt und daraus einen „schlechten Tag” konstruiert. Auch missversteht er Glück als einen Zustand der völligen Abwesenheit von Unglück. Er akzeptiert nicht, dass es reines Glück ohne wenigstens ein Quäntchen Unglück nicht gibt, und dass die Kunst des Glücklichseins im liebevollen Annehmen des Unglücks besteht. Und so bleibt seine Suche nach dem Glück stets vergeblich.
„Werde ich glücklich, wenn ich mir dieses Essen gönne?”
„Werde ich glücklich, wenn ich x besitze oder ein Auto der Marke y fahre?”
„Werde ich glücklich, wenn dieser Mensch mich liebt?”
„Werde ich glücklich, wenn ich Experte im Meditieren werde oder perfekt Yoga beherrsche?”
Wenn ich sehe, dass er unermüdlich eine Leiter hinaufklettert, die an der falschen Wand lehnt, tut er mir regelrecht leid.
Trotzdem besteht selbst für ihn Hoffnung. War es nicht der Buddha selbst, der sagte: ”Ich bin schwach, wirklich schwach, unbeschreiblich schwach”? Aus dieser Schwäche heraus trat er seine großartige, spirituelle Reise an und brachte sie zur Vollendung. Ich zweifle keinen Moment daran, dass die Schwäche meines Schülers das Potenzial grenzenloser Möglichkeiten birgt. Mit sich selbst und der eigenen Willensschwäche Schritt um Schritt voranzugehen ist die wertvollste Übung im Leben.
Mein einziger und zugleich liebster Schüler ist, wie Sie inzwischen längst erkannt haben, mein eigener schwacher Geist.
Foto: edwinsmom / photocase.de
AUS:
„Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat”
Shiva Ryu, Scorpio Verlag 2020