…die Realität der Welt in ihrer Gesamtheit berühren und sinnlich erfahren…
Tantra ist ursprünglich eine ungemein kreative mystische Strömung, die sich vor Tausenden von Jahren in Indien entwickelt hat. Neu und revolutionär war am Tantrismus, dass hier ein Bewusstseinsweg aufgezeigt wird, der das gesamte sinnliche, emotionale und intellektuelle Potenzial des Menschen mit einbezieht und alle moralischen und dogmatischen Eingrenzungen ablehnt. So sagen tantrische Lehrer seit jeher, dass sich eine tiefe liebende Verbindung zur Welt nur dann einstellt, wenn ein Mensch die Realität der Welt in ihrer Gesamtheit berühren und sinnlich erfahren kann. Kein Aspekt des menschlichen Erlebens, auch nicht die menschliche Sexualität, wird im Tantrismus ausgegrenzt – anders, als es die meisten anderen spirituellen Wege tun. Tantra ist also ein nichtdualer Weg, der nicht zwischen heilig und profan, gut und schlecht, rein und unrein unterscheidet, sondern stattdessen versucht, alle Erscheinungen des Lebens und des Menschseins mit Bewusstsein zu durchdringen und auf diese Weise eine innige Verbindung mit der Welt herzustellen. Der Blickwinkel eines Tantrikers ist der eines Liebenden, der sich in einer frischen, spontanen Kommunikation mit der Welt befindet – ganz egal ob es sich nun konkret um das Hören von Musik, den Ausdruck eines Gefühls, das Betrachten einer Wolke am Himmel, ein offenes Gespräch oder die sexuelle Begegnung mit einem anderen Menschen handelt. Leider gibt es mittlerweile viele Missverständnisse zum Begriff Tantra, die zum Teil haarsträubend und völlig irreführend sind. Besonders hartnäckig und unterfüttert von einschlägigen Angeboten hält sich die Meinung, es handele sich beim Tantra hauptsächlich um exotische Sex-Praktiken und ausschweifenden Hedonismus. Die einseitige Fokussierung auf die sexuelle Ebene, wie man sie heute oft antreffen kann, ist aber eine reine Erfindung des Westens und hat mit der ursprünglichen Schönheit und Natürlichkeit der tantrischen Praxis so gut wie gar nichts mehr zu tun.
WIE WIRKT TANTRA?
Nachdem es im ursprünglichen Tantra um eine unverstellte natürliche Kommunikation mit der Welt geht, liegt ein Hauptaugenmerk auf der Frage, wie man seinen eigenen Resonanzkörper (bestehend aus den Sinnen, dem Körper, den Gefühlen, dem Intellekt usw.) so einstimmt, dass man die Welt real wahrnehmen, mit ihr mitschwingen und spontan auf sie reagieren kann. Das heißt es geht grundsätzlich um Entspannung, Feinfühligkeit, Durchlässigkeit und Beweglichkeit. Daher spricht man vom Tantrismus von einem weiblichen Weg, da er die Bereitschaft voraussetzt, sich vom Leben berühren und „penetrieren“ zu lassen. Auf dem Weg der tantrischen Praxis tauchen natürlich alle inneren Orte auf, wo man starr, unbeweglich oder taub geworden ist, bzw. Erfahrungen abwehrt. Das betrifft körperliche Verspannungen ebenso, wie verhärtete Punkte in der Psyche, wo seelischer Schmerz festgehalten wird, oder abwehrende Widerstandsmuster und eingefahrene Überzeugungen. Sich mit diesen Dingen zu beschäftigen und sie wieder in Bewegung zu bringen ist nicht Jedermanns Sache und setzt ein gewisses Maß an persönlicher Leidenschaftlichkeit voraus. Die tantrische Praxis beginnt dann zu wirken, wenn man an sich feststellt, dass man sich zunehmend aus alten, sich ständig wiederholenden Verhaltensmustern löst und sich eine angstfreie Ebene öffnet, wo man spontan aus dem Augenblick heraus mit der jeweiligen Situation kommuniziert und sich ein Grundgefühl der Freude einstellt, weil man sich im direkten Kontakt mit der Welt frei und lebendig fühlt.
WAS KANN TANTRA ZU UNSEREM LEBEN BEITRAGEN?
Tantra ist ein spiritueller Weg, der sich an Individuen richtet und eine Praxis anbietet, um mit der Welt, wie sie ist, in eine lebendige Beziehung einzutreten, hier und jetzt. Der ursprüngliche Tantrismus ist also keine Paartherapie oder Beziehungsberatung und auch kein Weg, um seine sexuelle Performance zu verbessern. Nachdem es aber darum geht, mit den Erscheinungen des Lebens unmittelbar in Kontakt zu treten, sich von ihnen berühren zu lassen und sie wirklich zu berühren, auf allen Ebenen seines Wesens, verändert sich – sozusagen als Begleiterscheinung – auch die Art, wie man mit anderen Menschen umgeht (auch in Partnerschaften und in der Sexualität). Statt auf stereotype Verhaltensweisen zurückzugreifen, entwickelt man zunehmend die Fähigkeit, sich spon – tan aus dem Moment heraus auszudrücken; statt Sensationen zu suchen, erfreut man sich an einer wachsenden Sensitivität; statt sich an starren Verhaltensnormen oder moralischen Vorschriften zu orientieren, entdeckt man eine neue innere Stimmigkeit, die sich aus einer klaren Wahr nehmung und sensiblem Fühlbewusstsein ergibt. Das kann der einzelne Mensch als gesteigerte Lebendigkeit, Präsenz und Verbundenheit erleben. Aber auch im Kontext einer Beziehung steigt die Chance einer tiefen Begegnung, bei der beide in dem, was sie tun, wirklich anwesend sind, sich einander öffnen und sich in gegenseitigem Vertrauen menschlich weiter entwickeln.
TANTRA UND KÖRPERLICHE BERÜHRUNG
Im Tantra wird der Körper in die spirituelle Erfahrung integriert, denn der Körper versteht die Nicht-Dualität, das ungeteilte Sein im Augenblick, besser und unmittelbarer als der denkende Kopf. Und so verwendet man körperliche Berührung und Massage, um körperliche Blockaden zu lösen, taube Körperregionen wieder zu beleben, ein inneres Gefühl der Räumlichkeit zu schaffen und um innere Flüssigkeit und Beweglichkeit wieder zu gewinnen. Ziel ist es nicht, Erregung zu erzeugen, sondern den Körper in eine subtile lebendige Vibration zu versetzen, in welcher er als zusammenhängende organische Einheit erlebt wird und auf tiefer Ebene entspannt. Der Atem spielt im Tantra eine entscheidende Rolle: jede Berührung ergibt sich aus dem Atem, der tief in den Bauch strömt und den Körper in eine kontinuierliche Schwingung versetzt. Beim Yoga der Berührung, einer tantrischen Mas sagepraxis, die keinen fixen Schritten folgt, übt man die Kunst der absichtslosen Berührung – was eine Erfahrung darstellt, die den meisten Menschen unbekannt ist: zu berühren und berührt zu werden, ohne etwas Bestimmtes damit erzeugen zu wollen, ohne eine Gegenleistung zu fordern, ohne irgend etwas zu projizieren. Körperliche Berührung zu erleben, die nichts will, ist wie ein Trost, bei dem der tiefe Wunsch, richtig berührt zu werden, ebenso anklingen kann, wie das frühe menschliche Bedürfnis, ganz gehalten zu werden. Wer auf diese Art massiert wird, kann ein breites Erlebnisspektrum durchlaufen: Körperempfindungen vom Baby- bis zum Greisenalter, Gefühle von Misstrauen und Angst bis zu sinnlicher Erotik. Indem nichts forciert wird, aber alles sein darf, lernt der Körper, ähnlich dem Resonanzkörper eines Musikinstruments, in Vibration mit der Welt zu sein.
DER AUTOR:
Hellwig Schinko ist Leiter und Mitbegründer des Aruna- Instituts, einer zeitgemäßen Schule für Tantra, Eros, Liebe und Bewusstheit.
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Web: www.aruna-tantra.de