Qi Gong blickt auf eine sehr lange Geschichte im Kulturgut Chinas zurück und ehe der moderne Begriff Qi Gong in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt wurde, gab es verschiedene Bezeichnungen, wie z.B. dao yin (Leiten und Führen), shou yi (das Eine bewahren), nei guan (nach innen blicken), tu na (aufnehmen und zurückgeben) oder tiao xi (den Atem regulieren). Qi Gong ist zudem neben der Akupunktur, der Dietätik, der manuellen Therapie und Kräuterheilkunde eine wichtige Säule der traditionell chinesischen Medizin (TCM).
Körper, Geist und Herz werden im Qi Gong gleichermaßen angesprochen und genährt. Die fließend ausgeführten Übungen des weichen bewegten Qi Gong entschleunigen, lassen den Geist zur Ruhe kommen und aktivieren die Lebenskraft (chinesisch = Qi). Das Besondere der Qi Gong-Übungen ist der kontinuierliche Fluss in der Bewegung, der von einer achtsamer Präsenz und der Kraft der Vorstellung getragen wird. Darüber hinaus zeigt sich Qi Gong in unzähligen Facetten, und Variationen – ich vergleiche den Qi Gong-Übungsweg mit dem Erlernen eines Musikinstrumentes oder einer Komposition. Wir lernen wieder in Einklang zu sein und bringen unser Sein in ein harmonisches Klingen. Nicht nur in Bezug auf uns, sondern auch im Hinblick darauf, wie wir mit dieser Welt in Beziehung treten.
Häufig wird dabei in vielen Qi Gong Schulen nur das sogenannte „untere Dantian“ thematisiert. Dieses ist im Bauch-/Beckenraum angesiedelt und stellt eine Art „Energiefeld“ dar. Hier befindet sich unser Kraftreservoir, aus welchem wir – im besten Fall – in kargen Notzeiten schöpfen können. Es bildet unser energetisches Fundament und ist ein sehr wichtiges energetisches Zentrum für Stabilität, Zentrierung und Erdung. Neben dem unteren Dantian gibt es jedoch auch das „mittlere Dantian“, welches im Brustkorb angesiedelt ist und mit dem Herz-Chakra korrespondiert. Jegliche Praxis, ob nun Qi Gong oder andere meditative Wege, laufen ohne die Miteinbeziehung des Herzens bzw. des mittleren Dantians Gefahr, „kalt“, „technisch“ oder rigide zu werden. Somit ist Qi Gong nicht nur Kraftquelle, sondern auch ein Herz öffnender Weg, der unser Sein durchwärmt.
Das Herz ist in der traditionell chinesischen Medizin dem Element Feuer zugeordnet und auch Ausdrücke in unserem Sprachgebrauch weisen auf diesen Feuer-Aspekt hin, z.B. „es wird einem warm ums Herz“ oder „ein Herz entflammt in Liebe“.
Das Herz wird in der chinesischen Medizin als Sitz des Geistes beschrieben und interessanterweise gibt es im Chinesischen nur ein Wort für Herz und Geist: „Shen“. Wenn unser „Shen“ gut im Herzen verankert ist und sich bester Gesundheit erfreut, strahlen wir das aus. Das zeigt sich vor allem in einer gesunden Gesichtsfarbe und einem wachen, offenen Blick. Wir freuen uns des Lebens und sind ausgeglichen, sind begeisterungsfähig und haben ein offenes Herz für unsere Mitmenschen. Ist unser „Shen“ jedoch vernachlässigt oder geschwächt, können Beschwerden auftreten, wie z.B. Vergesslichkeit, verlangsamtes Denken, Schläfrigkeit bis hin zu Schlafstörungen, emotionalen Problemen, Unruhe oder sogar Angstzuständen und Depressionen. Dabei muss keine organische Auffälligkeit des Herzens vorliegen!
Hier wirkt die Qi Gong-Praxis gleichermaßen präventiv wie regulativ, wenn bereits Beschwerden aufgetreten sind. Durch das Üben reguliert und vertieft sich der Atem, der Geist kommt zur Ruhe und wir fühlen uns ausgeglichener. Körper und Geist können sich erholen – wie ein Reset. Viele Übungen aus unterschiedlichen Qi Gong-Übungsreihen können uns darin unterstützen die Kraft des Herzens zu entfalten, indem z.B. körperliche „Verpanzerungen“ im Brustkorb und im oberen Rücken (Brustwirbelsäule) gelöst werden. Bewegte Qi Gong-Übungen, die den Brustkorb öffnen, dehnen und weiten, sind hier besonders unterstützend. Ein Beispiel dafür möchte ich in der folgenden Übung aufzeigen:
DEN BRUSTKORB WEITEN, DEN HORIZONT UMARMEN
Die Füße sind schulterbreit und parallel ausgerichtet, wir stehen entspannt aufrecht und gut verwurzelt, die Knie leicht gebeugt und die Arme hängen seitlich locker herab.
Ausführung: Die Hände (die Handflächen schauen zur Erde) steigen nun vor dem Körper auf Schulterhöhe. Hier angekommen die Handflächen einander zuwenden, öffnende Bewegung der Arme, wie zwei Flügel die sich ausbreiten und sich wieder schließen und nach unten sinken.
Vorstellung: Wir umarmen den Horizont oder z.B. die Schönheit der Natur, der Berge etc.
(Sie finden diese Übung auch auf www.daowege.de unter Galerie)
Durch diese achtsame und liebevolle Zuwendung unserem Herz/Geist gegenüber können alte Wunden heilen – wir werden mitfühlender für uns und die Welt. Erst durch die Öffnung des Herzens können wir wahrhaftig empfangen und aus der Fülle des Lebens schöpfen. Jeder Atemzug ist ein Geschenk des Universums, Kraftquelle und Verwandlung in einem. Ein offenes weites Herz ohne ein ausreichend tragendes Fundament droht jedoch zu verbrennen, daher ist die Pflege der Erdung und Zentrierung im Bauchraum ebenso wichtig, um diese Kraft zu bewahren.
Wenn wir die Kraft des Qi Gong erfahren möchten, müssen wir es praktizieren – denn der einzige Zugang ist die Erfahrung über das eigene Tun. In diesem Sinne wünsche ich viel Freude beim Entdecken und Wecken Ihrer Kraft.
DIE AUTORIN:
Feryal Genç ist Heilpraktikerin sowie Qi Gong-Lehrerin und -Ausbilderin (DDQT zertifiziert). Sie ist außerdem ausgebildet in Traditioneller Chinesischer Medizin und westlicher Phythotherapie. Seit 2012 in der Praxis für ganzheitliche Medizin in Friedberg tätig. Begründerin des Vereins Daowege e.V.
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Web: www.ganzheitlichemedizin-friedberg.de