Fühlen ist etwas anderes als das, was wir landläufig darunter verstehen. Wirkliches Fühlen ist heilend und macht aus dem verworrenen und verwirrenden Puzzlespiel unseres Lebens etwas Einfaches, Ganzes. Es bringt uns aus unseren Überlegungen, die unablässig Vergangenheit und Zukunft heraufbeschwören und nach den Mustern unserer Hirngespinste verknüpfen, zurück in die Gegenwart – nach Hause, in den Augenblick.
Fühlen ist etwas Unmittelbares, etwas, das so nah, so direkt in unserem Kern, in unserem Herzen stattfindet, dass wir es übersehen, weil wir nicht gewohnt sind, unsere Aufmerksamkeit so dicht in unserer Mitte zu halten. Vielmehr lassen wir sie stets aus uns heraus leuchten, um sie auf etwas zu richten, das außerhalb unserer Mitte liegt. In unserer Mitte zu sein und die Aufmerksamkeit bei uns zu halten macht uns Angst. Ist die Welt noch da, wenn ich sie nicht beachte? Was geschieht um mich herum, wenn ich bei mir bin statt bei dem, was um mich herum geschieht? Was geschieht hinter meinem Rücken?
Das hat viel mit der Art zu tun, wie wir in der ersten Zeit unseres Lebens behandelt wurden. Wenn jemand nach seiner Geburt sofort sanft an die Mutterbrust gelegt wurde, auf wohlige Weise an allem teilhabend, ohne ständig im Zentrum aller Aufmerksamkeit zu stehen, nach Lust und Laune schlafend, dösend, träumend oder beobachtend, dann hat er oder sie mit Sicherheit die Fähigkeit erworben, in sich zu ruhen, zu vertrauen und am Leben teilzuhaben, ohne aus der Mitte zu fallen. Aber bei welchem von uns Zivilisationsmenschen war das schon der Fall? Wie viele von uns wurden direkt nach der Geburt erst einmal von der Mutter getrennt, um untersucht, gebadet, gewaschen, gewickelt und dann viel zu früh fern vom warmen, schützenden Körper der Mutter in einem Bettchen, einer Wiege oder einem Kinderwagen zu liegen? Wie soll die Aufmerksamkeit wohlig in der Mitte ruhen, wenn sich die Quelle des Lebens, der Nahrung, des Schutzes und der Wärme außerhalb und allzu oft sogar außer Reichweite befindet?
Fühlen ist das übersehene, nicht bemerkte unmittelbare innere Erleben, das im Zentrum stattfindet, während unsere Aufmerksamkeit nach außen gerichtet ist, wo sich das befindet, worauf wir unser Begehren richten oder wovor wir Angst haben. Fühlen ist das, was in unserer Mitte geschieht, während wir mit unserer Aufmerksamkeit außerhalb sind, um etwas von der Welt um uns herum mitzubekommen. Das Interessante ist, dass wir von der Welt um uns herum tatsächlich mehr wahrnehmen, wenn wir mit der Aufmerksamkeit in unserer Mitte sind und fühlen. Fühlend sind wir unmittelbar in Kontakt mit ihr. Wir haben das Fühlen nicht verlernt. Wir haben nur verlernt, es zu bemerken. Es findet ständig neu statt; wir müssen nur lernen, unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, denn wir sind allzu gründlich dazu erzogen worden, es zu ignorieren.
FÜHLEN STATT SICH ETWAS VORZUSTELLEN
Heute ist Sonntag, ein Sonntag, an dem ich nicht auf Reisen bin und nicht arbeite. Wie wunderbar! Was fange ich mit meiner Freizeit an? Am liebsten würde ich gemütlich in einem Sessel sitzen und … nähen. Ja, komisch, nähen. Tue ich sonst nie. Dinge, die ich in den Nähkorb lege, kann ich genauso gut gleich wegwerfen. Aber heute habe ich Lust dazu. Also auf zum Nähkorb. Da erhebt sich in mir Protest: „Ich kann doch an meinem freien Tag nicht nähen!”, sagt eine empörte Stimme. „Das ist doch Arbeit! Wo ich ausmahmsweise einmal frei habe! Da tue ich doch lieber etwas, was eindeutig in die Rubrik ‚Faulenzen‘ oder ‚Vergnügen‘ gehört, etwa einen Roman lesen oder spazieren gehen, einen Ausflug machen oder einfach herumliegen und nichts tun ..” Und schon ist das Projekt Nähen gestorben und ich greife mir den Roman oder breche zu einem Spaziergang oder Ausflug auf. Am Abend stelle ich dann fest, dass mir irgendetwas fehlt, auch wenn der Tag sehr schön war … Was mir fehlt, ist die Befriedigung, das getan zu haben, was sich richtig anfühlte – nähen.
Wenn wir etwas vor uns haben, einen freien Tag, einen Urlaub, eine neue Beziehung, ein neues Projekt, was auch immer, neigen wir dazu, uns Vorstellungen zu machen. Aus der Erinnerung an frühere Ereignisse heraus und aufgrund dessen, was wir gelesen, gesehen oder gelernt haben, machen wir uns ein Bild davon, wie das Unternehmen aussehen sollte, anstatt auf unser Gefühl zu achten. Die ganz große Übung für alle, die nicht nur Fühlen lernen möchten, sondern glücklich, zufrieden und erfüllt zu sein, ist die: Denke nicht nach, was richtig ist, sondern achte darauf, was sich richtig anfühlt. Anders ausgedrückt: Zerbrich dir nicht den Kopf, sondern öffne dein Herz. Fühle.
Zwar müssen wir, schon weil wir als denkende Wesen gar nicht anders können, darüber nachdenken, was richtig sein könnte, und unseren Verstand auf diese Weise seinen Beitrag leisten lassen, aber dennoch verfügt jedes Lebewesen über eine wunderbare Fähigkeit, instinktiv zu wissen, was in einer gegebenen Situation das Richtige ist. Diese Fähigkeit nennt man Instinkt, Intuition oder ganz einfach Gefühl. Man hat so ein Gefühl. In neuzeitlichem Deutsch sagt man auch: „Es fühlt sich richtig an.“
Dieses Gefühl taucht im allerersten Moment auf und ist meist wieder verschwunden, bevor man es gemerkt hat. Hinterher, wenn alles anders – oft falsch – gelaufen ist, weiß man: „Ich hatte gleich so ein Gefühl”. Aber hinterher ist es zu spät. Wie kann man dieses flüchtige erste Gefühl im richtigen Moment erfassen? Indem man sich darauf einstellt, wieder und wieder – am besten täglich – darauf zu achten. Es ist ganz einfach, man muss es nur tun.
ÜBUNGEN ZUM „FÜHLEN LERNEN“
Um zu erfahren, was Fühlen überhaupt ist, helfen am besten Vergleiche:
Denken Sie an eine Person, die Sie nicht leiden können oder auf die Sie wütend sind.
Spüren Sie Ihren Atem und Ihren Körper. Wie fühlt es sich an, an diesen Menschen zu denken? Atmen Sie dann tief auf und aus.
Denken Sie nun an eine Person, die Sie sehr gern haben.
Spüren Sie Ihren Atem und Ihren Körper. Bemerken Sie einen Unterschied in dem, wie es sich körperlich anfühlt, an diesen Menschen zu denken?
Nehmen Sie das Ergebnis nicht als Aussage über die Person, sondern über die Art, wie Ihr Körper auf die Person reagiert.
Denken Sie an ein Nahrungsmittel oder Gericht, das Sie nicht mögen.
Spüren Sie Ihren Atem und Ihren Körper.
Denken Sie nun an ein Gericht, das Sie sehr gern mögen.
Spüren Sie Ihren Atem und Ihren Körper. Achten Sie auf den Unterschied.
(Wenn Sie das öfter üben, werden Sie lernen zu fühlen, ob ein Nahrungsmittel Ihnen gut tut.)
Denken Sie (unabhängig von Ihrer momentanen Stimmung) an „Wut“.
Spüren Sie Ihren Atem und Ihren Körper. Was spüren Sie? Wo? Wie fühlt es sich an?
Atmen Sie auf und aus.
Nun denken Sie an „Freude“.
Spüren Sie Ihren Atem und Ihren Körper. Wie fühlt sich der Gedanke an Freude an? Merken Sie den Unterschied?
Wenn Sie das öfter üben, werden Sie – umgekehrt – leichter erkennen können, welches Gefühl Sie gerade beherrscht, indem Sie auf Ihren Körperzustand achten (der Grundschritt der „Körperzentrierten Herzensarbeit)”.
DIE AUTORIN:
Safi Nidiaye ist Meditationslehrerin und Autorin zahlreicher Bücher über psycho-spirituelle Lebenshilfe, Intuition, Meditation und Herzensarbeit. Sie leitet Seminare und Ausbildungen. Die Grundlage ihrer Arbeit ist die präzise Beobachtung innerer Vorgänge, wie sie in der Zen-Meditation praktiziert wird. Ihr neuestes Buch: „Gefühle sind zum Fühlen da. Das Handbuch zum positiven Umgang mit negativen Emotionen.”, Integral Verlag, 2017
Kontakt
Web: www.safi-nidiaye.com